Dirk
Hallenberger
Zur Geschichte der Ruhrgebietssprache
Dirk Hallenberger, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter an der WWU Münster
„Das
um 1850 einsetzende Aufblühen des Kohlenbergbaues ist der Wendepunkt
für die Sprachentwicklung im Ruhrgebiet, da die vielen technischen
Ausdrücke und Wörter der Industrie dafür verantwortlich sind, daß sie,
wenn sie auch mit der Zeit geläufig wurden, doch das einheitliche
Gefüge der Sprache zerrissen.“ Dies ist die Erklärung eines
Germanisten, der die Veränderungen der Sprachverhältnisse im Revier
kurz nach der Jahrhundertwende aufmerksam verfolgte.
Dialektgeographisch betrachtet, trafen diese Wandlungen auf ein Areal,
das in seiner Gänze zum niederdeutschen Sprachgebiet gezählt wird. Fast
in seiner Mitte wird es allerdings von einer wichtigen Sprachlinie, der
niedersächsisch-niederfränkischen Dialektscheide, durchschnitten, so
dass der östliche, westfälische Teil des heutigen Ruhrgebiets einen
größeren Raum umfasst als der westliche, niederfränkische Teil.
Vor
dem Höhepunkt der Industrialisierung war für die meisten Bewohner
zwischen Ruhr und Lippe das westfälische bzw. niederfränkische Platt
die vorherrschende Sprachform. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden
die niederdeutschen Dialekte in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet dann
jedoch zusehends zurückgedrängt, im entstehenden Ruhrgebiet in
besonderem Maße. Gerade in diesem Raum zeigte sich sehr deutlich, wie
die raschen Veränderungen der ökonomischen und kulturellen Bedingungen
sich in dieser Zeit auf die regionale Sprachentwicklung auswirkten: Die
einheimischen Dialekte begannen für ihre Sprecher, mehr noch für die
Zugezogenen, stark an Bedeutung zu verlieren.
Dazu
der Duisburger Sprachforscher Arend Mihm: „Die alten Dialekte hatten
seit der Industrialisierung keine Chance mehr, das Kommunikationsmittel
für die breite Mehrheit der Bevölkerung zu bleiben. Die auf die
Agrarstruktur bezogene Kleinräumigkeit und der große Abstand zum
Hochdeutschen als der überregionalen Sprache machten die
niederdeutschen Varietäten ungeeignet für die großen
Bevölkerungsbewegungen, die bei der Ansiedlung der Industrie
erforderlich waren.“
Vor
allem diese Bevölkerungsverhältnisse waren es, die der Sprachsituation
des Ruhrgebiets ihren besonderen Charakter verleihen und sie damit von
der Entwicklung vergleichbarer anderer Sprachräume abheben. Nun waren
es jedoch – was für die Entstehung des Ruhrdeutschen nicht unwesentlich
ist – nicht in erster Linie ‚Polen‘ bzw. polnischsprachige Einwanderer,
die an der Um- und Neustrukturierung der Bevölkerung im Revier
beteiligt waren, auch wenn sie in einzelnen Gemeinden oder Stadtteilen
einen hohen Prozentsatz erreichten. In den ersten Phasen kamen mit den
Nahwanderern aus dem Rheinland und aus Westfalen hauptsächlich Sprecher
aus nieder- und mittelfränkischen bzw. westfälischen Dialektgebieten,
so dass die Sprachbarrieren zwischen ansässigen und zugewanderten
Bevölkerungsteilen keine ernsthaften Kommunikationsbarrieren
dargestellt haben dürften.
Erst
in den folgenden Phasen setzte der massenhafte Zustrom aus den vier
Ostprovinzen des Deutschen Reiches ein (Schlesien, Posen, Ostpreußen,
Westpreußen). Die Voraussetzungen für eine Integration in die
Sprachgemeinschaften des Ruhrgebiets waren hier komplizierter, d.h. die
Eingliederung der Einwanderer erwies sich bei bestimmten Gruppen als
schwieriger, bei anderen als relativ unproblematisch.
Zunächst
verdient das Sprachverhalten der ostpreußischen Masuren, die fast die
Hälfte der Zuwanderer aus dem deutschen Osten stellten, besonderes
Augenmerk. Sie gaben im Allgemeinen ihre eigentliche Muttersprache
Masurisch (ein polnischer Dialekt), wenn sie in Masuren nicht bereits
zweisprachig (Masurisch/Deutsch) aufgewachsen waren, in der neuen
Umgebung rasch auf; sie passten sich, begünstigt durch ihre meist schon
mitgebrachte pro-preußische Einstellung, den hiesigen
Sprachgegebenheiten an. Die Einwanderer aus der Provinz Posen hingegen
hielten auch im Ruhrgebiet, hauptsächlich aus ‚nationalen‘ Motiven,
weiterhin an Polnisch als ihrer Muttersprache fest. Da sie in ihrer
neuen Heimat jedoch gezwungen waren, auch die deutsche Sprache zu
verwenden, waren sie meist zweisprachig. Erst die nachfolgenden
Generationen legten das Polnische endgültig ab und erlernten nun
Deutsch als Muttersprache.
Diese
sozialen und kulturellen Veränderungen hatten für die sprachlichen
Verhältnisse des späten 19. Jahrhunderts verschiedene Konsequenzen. Die
erste war, dass die Dialekte ihr Ansehen (geringeres soziales Prestige)
und ihre Funktionen (geringere kommunikative Reichweite) weitestgehend
einbüßen und dass sich gleichzeitig die (prestigereichere und
brauchbarere) Standardsprache, wenn auch (je nach Region und
Bevölkerungsschicht) in verschiedenen Phasen und unterschiedlichen
Intensitäten, erheblich ausbreiten kann. Die zweite Konsequenz war,
dass „regionale Ausgleichs- und Mischsprachen, die sog.
Umgangssprachen, entstehen, die sprachsoziologisch und pragmatisch
zwischen privater, noch stark dialektal geprägter Alltagssprache und
der an der Schriftsprache orientierten, öffentlichen Sprache
vermitteln“ (Dieter Cherubim). Vor diesem Hintergrund ist die
Entstehung der Varietät Ruhrdeutsch zu verstehen.
Ruhrdeutsch in zehn Sätzen
1 Status und Begriffsbestimmung
Ruhrdeutsch
ist in erster Linie eine gesprochene Sprache. Als regionale Varietät
oder regionale Umgangssprache ist es vor allem durch seinen regionalen
Bezug – eben zum Raum Ruhrgebiet – markiert.
2 Sprachliche Besonderheiten
Das
Ruhrdeutsch umfasst mindestens 30 verschiedene (von der Standardsprache
abweichende) Merkmale – auf der lautlichen Ebene, in der Formenlehre
und in der Syntax. Darunter finden sich so bekannte Phänomene wie die
unverschobenen Verschlusslaute (dat), die Spirantisierung des g
(Tach), die Vokalisierung des r (Fahkaate),
das unflektierte Possessivpronomen (unser Tante), der
übergeneralisierte Akkusativ bzw. Dativ sowie die umschreibende
Verlaufsform (am essen).
Diese Sprachmerkmale gelten allerdings nicht ausschließlich für den
Raum des Ruhrgebiets, wie andererseits nicht alle Bewohner das
Ruhrdeutsche in gleicher Qualität und Quantität sprechen.
3 Interne Zweisprachigkeit im Ruhrgebiet
Es
gibt auf der einen Seite die regional gefärbte Standardsprache, die in
Situationen eher öffentlichen Charakters gesprochen wird, und auf der
anderen Seite die Umgangssprache des Ruhrgebiets, die in Situationen
mehr privaten Charakters gesprochen wird. Linguistisch gesehen, liegen
beide Varianten zwar nicht so weit auseinander, dennoch unterscheiden
sie sich in allen sprachlichen Teilbereichen hinlänglich voneinander.
4 Situativer Verwendungsbereich
Bei
einer Meinungsumfrage, die Duisburger Studierende einmal durchführten,
zeigte sich zum Beispiel, dass die Mehrheit der Befragten das
Ruhrdeutsche „zwar als herzhaft und natürlich einstufte, seine
Verwendung aber nur in den Situationen ‚Stammtisch‘, ‚Familie‘ und
allenfalls ‚Gespräch mit Arbeitskollegen‘ akzeptierte, für die Schule
oder für das Parlament jedoch ablehnte“ (Arend Mihm).
5 Sozialer Verwendungsbereich
Empirische
Untersuchungen bestätigen, „daß Kinder aus Arbeiter- oder
Handwerkerfamilien, auch bei konstant gehaltener Gesprächssituation,
die für das Ruhrdeutsche typischen Sprachmerkmale häufiger verwenden
als Kinder aus Angestellten- oder Beamtenfamilien“ (Arend Mihm).
Andererseits „läßt sich beobachten, daß Studienräte, Rechtsanwälte oder
Diplom-Ingenieure auch im halböffentlichen Bereich“ bestimmte
ruhrdeutsche Merkmale in ihr aktives Sprachrepertoire aufnehmen.
6 Prestige
Bis
in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts galt das Ruhrdeutsch als
minderwertige Sprache, das zudem seine Sprecher als Menschen mit einem
niedrigen Bildungsniveau abstempelte. Neuere Umfragen unter
Ruhrgebietssprechern zur Bewertung der Regionalsprache ergaben jedoch,
dass fast zwei Drittel der Bewerter dem Ruhrdeutschen die attraktiven
Qualitäten „herzhaft“ und „natürlich“ zusprachen.
7 Historische Entwicklung
In
den Jahrzehnten um 1900 setzte durch die sprunghafte Industrialisierung
im Ruhrgebiet ein Sprachwandel ein: Die niederdeutschen Dialekte
erlebten einen Prestigeverlust, während die deutsche Standardsprache
gleichzeitig an Bedeutung gewann. Und daneben entstand mit der
regionalen Umgangssprache ein ganz neuer Varitäten-Typ, der mit keiner
anderen deutschen Regionalsprache vergleichbar ist und momentan die „am
weitesten verbreitete Regionalvarietät des deutschen Sprachraums“
darstellt: das Ruhrdeutsch.
8 Sprachliche Einflüsse
Entgegen
der weitläufigen Meinung lässt sich die Entstehung des Ruhrdeutschen
nicht auf den Einfluss der polnischen Sprache zurückführen
(„sprachlicher Mischungsprozess“). Wenn man die sprachlichen
Besonderheiten des Ruhrdeutschen allerdings mit den ‚alten‘
niederdeutschen Dialekten dieses Raumes vergleicht, so zeigen sich
zwischen ihnen ausnahmslos Übereinstimmungen. Die meisten Merkmale der
Ruhrgebietssprache stellen also Übernahmen aus dem Westfälischen bzw.
Niederfränkischen dar.
9 Lexikon
Die
Vitalität der Ruhrgebietssprache wird auch dadurch dokumentiert, dass
es mittlerweile eine ganze Reihe von Ruhrdeutsch-Lexika gibt.
10 Literaturfähigkeit
Seit
den 1970er Jahren lässt sich erkennen, dass das Ruhrdeutsch (als
schriftliche Variante) mit zunehmender Tendenz literaturfähig geworden
ist: von den frühen Glossen eines Wilhelm Herbert Koch (Kumpel Anton)
über die Romane von Jürgen Lodemann (Anita Drögemöller, Essen
Viehofer Platz) und den Stegreifgeschichten von Elke Heidenreich (Else
Stratmann) bis hin zu den Gedichten von Werner Streletz (Poetische
Texte) oder Kurt Küther (Ruhrpottogramme) sowie den Komödien
von Sigi Domke (Die Koplecks).
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